Auszug aus der Beschreibung von Colnaghi (2014):
[...]
Unsere Venus, eine klassische Gottheit, deren wunderbar geformter Körper den Einfluss der italienischen Renaissancemalerei und der klassischen Bildhauerkunst auf Cranach erkennen lässt, auf einem eine Mondlandschaft suggerierenden gewölbten Felssockel kommt auch aus einer älteren und lokaleren deutschen mittelalterlichen Tradition der Darstellung von Planetengottheiten. Zu Cranachs frühesten Venusdarstellungen und zu seinen ersten Versuchen der Darstellung weiblicher Akte gehören das große Gemälde "Venus und Amor" aus dem Jahr 1509 in Wien und der mit 1506 datierte Holzschnitt mit demselben Sujet. Allerdings gehen die meisten Fachleute heute davon aus, dass auch dieses Werk 1509 entstand. In beiden Fällen ist die Gestalt der Venus deutlich von Dürers berühmtem Stich „Adam und Eva" und über Dürer auch von den klassischen Prototypen, wie der "Kapitolinischen Venus", beeinflusst. Der Körper der Göttin mit den breiten Hüften und dem runden vollen Busen ist letztlich römischer Abstammung und unterscheidet sich deutlich von den kleinbrüstigen Akten Cranachs in späterer Zeit. Die Wiener "Venus", das erste lebensgroße Gemälde der Göttin im Stil des Nordens, ist das Werk, mit dem Cranach den Konventionen des klassischen Akts am nächsten kommt, und sowohl ihre Anatomie als auch gewisse stilistische Züge lassen vermuten, wie Kenneth Clark anregt [18], dass Cranach selbst Prototypen der italienischen Renaissance gekannt haben dürfte. So könnte etwa der schwarze Hintergrund, der einen so wirkungsvollen Kontrast zum nackten Körper bildet (ein Thema, das Cranach bei der Frankfurter und der Colnaghi "Venus" wieder aufnahm), durchaus von Gemälden aus Botticellis Werkstatt, wie etwa der "Venus" in Berlin, oder von Werken von Lorenzo Costa oder Lorenzo di Credi inspiriert worden sein, die beide dieses Motiv verwendeten, um ihren gemalten Akten eine plastische Wirkung zu verleihen. Das Sfumato und das subtile Spiel des Lichts auf ihrem Körper gehen unübersehbar auf Leonardo zurück. [19] Aber selbst zu diesem frühen Zeitpunkt [20] entsprechen die Proportionen des Körpers der Wiener "Venus" nicht so exakt dem vitruvianischen Kanon wie etwa Dürers "Eva". Der vorstehende Bauch der Figur und der eher langgezogene Torso verweisen eher auf mittelalterliche Akt-Traditionen nördlich der Alpen, möglicherweise eine Auswirkung der Reise Cranachs in die Niederlande im Jahr 1508, bei der er vermutlich frühere Aktgemälde von Memling und die zeitgenössischen erotischen Darstellungen von "Adam und Eva" von Jan Gossaert kennenlernte, die Clark "curiously indecent" [21] (merkwürdig anstößig) fand. Eine weitere Anleihe bei diesen frühen nördlichen Traditionen sind die Wolken, von denen die Venus auf Cranachs Holzschnitt umgeben ist, eine Anspielung auf ihre Rolle als astrologische Planetengottheit. Der Stich zeigt Venus, die erfolglos ihre Scham mit einem Schleier zu verhüllen sucht, den ihr ein Windstoß entreißt, während sie den Knaben Amor davon abhält, den Bogen zu spannen - eine Ikonografie, die dem männlichen Betrachter eine ziemlich ambivalente Botschaft vermittelt - auf der einen Seite verführerisch erotisch und auf der anderen eindringlich mahnend. Ähnlich ambivalente Botschaften vermittelt das Gemälde "Venus und Amor" in Wien. Hier warnt das verführerische Bild der Göttin der Liebe, die gelassen ihren schießwütigen Sohn zügelt, mit den begleitenden moralisierenden lateinischen Versen den [vermutlich männlichen] Betrachter vor den Folgen der körperlichen Leidenschaft: "Bezwinge mit ganzer Anstrengung deine Liebesgelüste, damit nicht Venus dein umnebeltes Herz besitzt!" (Zitat Koepplin) [22] Nacktheit war offenbar in Wittenberg durchaus akzeptabel, sofern sie mit einem passenden moralisierenden Epitheton versehen oder durch einen klassischen oder biblischen Text legitimiert war.
[...]
[18] K. Clark, „The Nude", 1956 S. 319, S. 17-18
[19] Möglicherweise über eine der vielen Kopien der nunmehr verloren gegangenen "Leda"
[20] Für die deutlichste Herausarbeitung der Unterschiede in den Proportionen der klassischen bzw. mediterranen Darstellung weiblicher Akte, der Vergleich der "Cnidianischen Venus" mit der "Venus" von Memling in Wien (siehe Clark, op. cit., S. 17-18)
[21] Op. cit. S. 320
[22] Die Originalinschrift lautet: "PELLE CUPIDINEOS TOTO CONAIME LUXUS/NE TUA POSSIDEAT PECOTRA CECA VENUS."
[http://www.colnaghi.co.uk/venus-0; accessed 10.02.2015, translated and augmented by A. Hanzl, The Princely Collections 2014]