Ruhende Quellnymphe
Lucas Cranach d. Ä. war neben Albrecht Dürer ein Bahnbrecher der Aktmalerei in Deutschland. 1509 schuf er eine lebensgroße Darstellung der stehenden, vollkommen unbekleideten Venus mit dem Amorknaben. Rund sechs Jahre später folgte ein liegender weiblicher Akt – die in freier Natur ruhende Quellnymphe. Cranach und seine Werkstattmitarbeiter haben beide Motive – die Venus und die Quellnymphe – mehrfach variierend wiederholt.[1] Für die Jahre nach 1530 kann man von einer Serienproduktion sprechen, obgleich sich die Fassungen selten exakt gleichen. Meist wurden die Bildelemente geschickt abgewandelt und auf neue Weise kombiniert. Die hier gezeigte Karlsruher Quellnymphe kommt den früher zu datierenden Versionen in New York und Kassel, die man Lucas Cranach d. J. zuschreibt, allerdings so nahe, dass man von einer Kopie sprechen möchte.[2] Das Zentrum nimmt die nackte Nymphe mit durchsichtigen Schleiern um Scham und Kopf ein. Die goldenen Halsketten und der Armschmuck scheinen zu einer Hofdame der Cranachzeit besser zu passen als zu einer antiken Naturgottheit. Der Bogen und der mit Pfeilen gefüllte Köcher erinnern daran, dass Nymphen zum Gefolge der Jagdgöttin Diana gehören. Gleichzeitig lassen sie an die Waffen Amors, des Begleiters der Venus, denken. Die Rebhühner zu Füßen der Nymphe verweisen als beliebte Beute ebenfalls auf den Bereich der Jagd. Sie sind aber auch als erotische Anspielung zu verstehen, waren sie doch nach zeitgenössischer Auffassung besonders triebhaft.[3] Da Nymphen in der Mythologie als sehr keusch gelten, dürften die Rebhühner nicht als Attribute der Liegenden, sondern als Warnzeichen für den begehrlich blickenden Betrachter gemeint sein. Im Mittelgrund ergießt sich der Wasserstrahl aus einer gefassten Quelle in einen Teich, hinten sind ein hoher Burgfelsen und eine an dessen Fuß liegende Phantasiestadt sichtbar.
Das Karlsruher Gemälde unterscheidet sich von den meisten bekannten Fassungen des Themas dadurch, dass es sehr kleinformatig und auf Metall gemalt ist. Es handelt sich um ein privates Kabinettbild, das nicht repräsentativen Zwecken genügen, sondern in der Nahsicht ästhetisches Wohlgefallen und erotischen Kitzel auslösen sollte. Die Nymphe ist besonders kindlich, ja puppenhaft dargestellt und weit entfernt vom entwickelten Körperideal eines Albrecht Dürer. Trotz des mythologischen Motivs ist von der Antikenbegeisterung der Renaissance hier nicht mehr viel zu spüren.
Die allmähliche Entfernung von der Natur einerseits, klassischen Vorbildern andererseits war eine Tendenz Cranachs, die er an seine Söhne und Mitarbeiter weitergab. Die ans Naive grenzende Stilisierung im vorliegenden Werk legt allerdings die Vermutung nahe, dass dieses nicht aus der Werkstatt Cranachs stammt, sondern von einem im späten 16. oder frühen 17. Jahrhundert arbeitenden Nachahmer. Dieser Maler legte offensichtlich Wert auf eine direkte Blickbeziehung zwischen Nymphe und Betrachter: Anders als bei Cranach schaut die Schöne mit weit geöffneten Augen aus dem Bild. Damit wird der Sinn des Epigramms konterkariert, das als Inschrift auf sämtlichen anderen Quellnymphenbildern zu lesen ist – die Aufforderung nämlich, die schlafende Nymphe nicht zu wecken.[4] Die Inschrift befindet sich auch auf dem Karlsruher Bild, und zwar in der rechten oberen Ecke. Nur durch Infrarotreflektographie lässt sie sich allerdings noch sichtbar machen, denn sie wurde in späterer Zeit übermalt. Die hellwach wirkende Nymphe mag den Anlass dazu gegeben haben.
Holger Jacob-Friesen
[1] Nur einige sind aufgenommen und abgebildet in: Max J. Friedländer/Jakob Rosenberg: Die Gemälde von Lucas Cranach, Basel, Boston, Stuttgart 1979, Nr. 119, 120, 259, 402, 403.
[2] Vgl. The Metropolitan Museum of Art, New York/The Robert Lehman Collection, Bd. 2: Fifteenth to Eighteenth-Century European Paintings, New York 1998, Nr. 10, S. 48-54; Bernhard Schnackenburg: Staatliche Museen Kassel/Gemäldegalerie Alte Meister. Gesamtkatalog, Bd. 1 (Text), Mainz 1996, Nr. GK 19, S. 97.
[3] Vgl. Franz Matsche: „Nympha super ripam Danubii“. Cranachs Quellnymphen und ihr Vorbild, in: Andreas Tacke (Hrsg.): Lucas Cranach 1553/2003. Wittenberger Tagungsbeiträge anlässlich des 450. Todesjahres Lucas Cranachs des Älteren, Leipzig 2007, S. 159-203, hier: S. 194f.
[4] „FONTIS NIMPHA SACRI SOMNVM NE RVMPE QVIESCO“ – Ich, die Nymphe der heiligen Quelle, ruhe, störe nicht meinen Schlaf.