Bild des noch lebenden Christus am Kreuzesstamm, der in der oberen Bildhälfte von dunklen Wolken hinerfangen wird. Im unteren Bilddrittel ist eine Tafel mit lateinischer Inschrift in Kapitalen am Längsbalken mit Kordeln angebracht. Zum Horizont hin lichtet sich der Hintergrund von einem hellen Blau-Grün zu einem hellen Gelb durchsetzt von rosaroten Streifen am Übergang. Die Szene ist auf einem schmalen, detailliert ausgearbeiteten hügeligen Landschaftsstreifen verortet. Über die Auftragslage, ursprüngliche Funktion sowie die Provenienz des großformatigen Gemäldes ist wenig bekannt. Angeblich soll es alter Universitätsbestand sein und zum Augustinerkonvent gehört haben.[1]
Das großformatige Leinwandbild ist nicht, wie Kehrer 1916 in seiner Diskussion des Dresdener Kruzifixus mit Dürermonogramm annimmt, die erste Darstellung des Gekreuzigten in völliger Einsamkeit.[2] Vielmehr geht es vom Typus auf das Dubliner Gemälde Cranachs d. J. aus dem Jahre 1540 zurück. Im Unterschied zu diesem konzentriert sich die Darstellung in Wittenberg ganz auf Christus ohne weiter ausgearbeitete und erzählerisch gestaltete Hintergrundlandschaft. Zudem blickt der Gekreuzigte nun den Betrachter mit leicht geneigtem Kopf an.
Der Typus des noch lebenden Christus am Kreuzesstamm ohne Seitenwunde mit zum Himmel erhobenem Gesicht erscheint laut Schade seit 1536 im Werk Lucas Cranach d. J.. Als Anregungsquelle für diesen Darstellungstypus sieht Schade noch das in Dresden befindliche kleinformatige Kruzifixus, welches er Dürer zuschreibt und auf 1500 datiert.[3] Diese Abhängigkeit wurde bereits zuvor bestritten, so dass in der jüngeren Forschung die Auffassung besteht, dass es sich bei der Dresdener Tafel um eine Fälschung, um eine verbesserte Kopie von Cranachs Dubliner Bild handelt und dieser Typus somit von Cranach geprägt ist.[4] Gemäß Schade bildet die großformatige Tafel neben den Darstellungen des gekreuzigten Christus mit Stiftern auf einem Epitaph von 1570 in Nienburg und 1571 in Augustusburg eine Ausnahme des ansonsten bei figürlichen Darstellungen in dem für die spätere Phase überwiegenden kleinen Figurenmaßstabs. Die Darstellung des Gekreuzigten bildet eines der Hauptmotive im Spätwerk des jüngeren Cranach.[5]
Die kunsthistorische Forschung ist sich einig, dass dieses Bild einen Grundgedanken der reformatorischen Passionstheologie veranschaulicht. Martin Luther verstand das Kreuz Christi in einer tröstlichen Weise im Sinne von Stärkung und Hilfe und nicht nur in einer erschreckenden, an die göttliche Richtergebärde erinnernden. Das Kruzifix visualisiert für ihn am eindringlichsten, dass allein der Glaube an Gott die Erlösung der Sünder ermöglicht und entspricht damit am stärksten seiner an den christlichen Bildgebrauch gestellten Forderung: Es führt dem gläubigen Betrachter die Gnade Gottes in Christus vor Augen und hält den bereits vorhandenen Glauben wach. Dem Gläubigen kann ein solches Bild als Gebetshilfe dienen, insbesondere wenn Schriftworte dem Bild seinen rechten Sinn geben.[6] Koepplin deutet daher das Wittenberger Kruzifix innerhalb seiner Untersuchung über den tröstlichen Aspekt des Gekreuzigten nach Luthers Verständnis. Er stellt fest, dass sich Erbarmen und die Liebe Gottes zu den Menschen in der Darstellung des Gekreuzigten als ein gnädiges Zusich-Ziehen äußern, ohne Angst kann der gläubige Betrachter seine eigene Sünde ansehen, die Christus von den Menschen genommen hat. So sei das alte, vorreformatorische Verständnis, welches sich in dem Ausspruch „Tua culpa facit“ der Inschrift äußere, mit dem im Sinne Luthers tröstlichen Aspekt bei dieser Darstellung in Wittenberg verbunden. Christus schließe den Betrachter in sein Gebet mit ein und fordere ihn zum Mitbeten auf.[7] Koepplin interpretiert den Gekreuzigten als „zugleich zeichenhaft, ans Wort gebunden und unserer Betrachtung zugänglich gemacht, durch einen gemilderten Bildrealismus, der grundsätzlich verschieden ist von Realismus und von der Bildmacht eines mittelalterlichen Kruzifixes.“[8] Schulze deutet das Bild im Sinne Melanchthons und seiner Schüler, welche die Bilder aus dem Passionsgeschehen als besonders geeignet zur Meditation erachteten, weil in ihnen Trost und Ermahnung gefunden werden können. Schulze konstatiert im ersten Teil der Inschrift eine Ähnlichkeit zu Gebeten Melanchthons und sieht in der ausführlichen Beschreibung der Leiden Christi, in dem Sichvertiefen in die einzelnen Wunden eine Analogie zur mittelalterlichen Mystik, insbesondere der Darstellung des Schmerzensmannes.[9] Sie führt die Veranschaulichung Christi Opfertod als Heilstat, die Betonung von Mitleid und Barmherzigkeit bei dieser Darstellung auf einen Wesenszug Lucas Cranach d. J. zurück. Sie attestiert dem Maler einen Sensibilisierungsprozess, der zu einer gefühlsintensiven Hinwendung zu Christus führte.[10] Wimböck erinnert dieser Aufruf zur Versenkung ebenfalls an Texte zur Passion, in denen in vergleichbarer Weise das Passionsgeschehen aufgerufen wird, wie sie vor allem im Spätmittelalter und weniger in der Reformation vorkommen. Allerdings verweist sie auf Beispiele im protestantischen Umfeld, in denen „die Leiden gezählt werden“.[11]
In der Forschung wurde das Gemälde oft in engem Zusammenhang zum Bildtypus des hervorgehobenen bekennenden Hauptmannes bei der Kreuzigung betrachtet, aber auch in Verbindung zu den mittelalterlichen Herzbildern.[12] Schulze assoziiert das Wittenberger Kruzifixus mit den mittelalterlichen Herz-Jesu-Darstellungen, wie sie Thema eines vorreformatorischen Holzschnitts von Lucas Cranach d. Ä. 1505 war.[13] Wie Koepplin feststellt, erinnert dieser Holzschnitt nicht von ungefähr an die sogenannte Luther-Rose. Allerding differenziert er hier zwei Linien: die spätmittelalterlichen Herzbilder und die reformatorischen, wobei bei letzteren gemäß Luthers Verständnis Liebe und Erbarmen Gottes zu den Menschen betont werden und insgesamt ein Wandel in der Auffassung besteht.[14]
Wimböck hat das Gemälde bisher am ausführlichsten interpretiert und ihr besonderes Augenmerk auf die Beziehung von figürlicher Darstellung und Inschrift gerichtet. Sie erkennt in der Inschrift eine Fortsetzung der implizierten Betrachteransprache durch die geöffneten und auf den Betrachter gerichteten Augen Christi. Wimböck betont, dass der Text einen bildähnlichen und eigenständigen Status besitzt, wobei die Kombination von Wort und Bild die eingehende Betrachtung unterstützt. Hierfür spricht, dass sich das auffällige Textelement durch seine Größe, Positionierung und ornamentale Gestaltung als der bildlichen Darstellung ebenbürtig erweist und es zusammen mit der bildlichen Darstellung eine Bildbetrachtung meditativer Art – ganz im Sinne Luthers – ermöglicht. Von Wimböck wird das Werk daher in Anknüpfung an ihre Überlegungen zu den ‚zählenden‘ Texten zum Passionsgeschehen als allokutives Bildgedicht interpretiert, welches sie innerhalb eines humanistisch-reformatorischen Bildungs- und Betrachtungskontextes verortet. Sie deutet den deutlich hervortretenden, strahlenden, fast unversehrten Leib Christ als Leerstelle für die Passionsbetrachtung und die geschwungenen Kordeln unterhalb der Tafel als Imaginationshilfe für den Betrachter.[15]
Die Inschrift erinnert nicht zufällig an Gebete Melanchthons, findet sie sich wörtlich in dem Gedichtband ‚Elegiae‘[16] des Melanchthonschülers und Wittenberger Poetikprofessors Johann Maior, wie auch Wimböck festhält. Vor dem Hintergrund der innerreformatorischen Auseinandersetzung zwischen Philippisten und orthodoxem Luthertum ab den 1570ern, die schließlich zu einer theologischen und konfessionspolitischen Streitfrage wurde, führte 1574 das Eingreifen des Kurfürsten August zum Sturz des Philippismus in Kursachsen. Als bekennender Philippist war auch Johann Maior von der Verfolgung der sogenannten Kryptocalvenisten betroffen.[17] Daraus folgert Wimböck, dass das Gemälde neben den stilistischen Gründen vor den Unruhen von 1574 entstanden ist. Sie führt zudem eine weitere Zusammenarbeit zwischen Cranach d. J. und Johann Maior an: Der Dichter soll den Text für die Inschrift des Epitaphs für die Schlosskirche in Augustusburg verfasst haben. Schulze gibt zwar dessen Vater Georg Maior, Theologieprofessor in Wittenberg, als Autor an, worin Wimböck allerdings eine generell falsche Wiedergabe des Namens in der Forschung sieht.[18]
[Désirée Monsees, Martina Sitt, April 2012]
[1] Suevus, Gottfried: Academia Wittebergensis ab anno fundationis 1502 festo divae Lucae die XIIX. mens. Octobr. usque ad annum 1655 ..., Wittenbergae [1655] und Bellmann, Fritz; Harksen, Marie-Luise; Werner, Roland (Bearb.): Die Denkmale der Lutherstadt Wittenberg, Weimar 1979, S. 72.
[2] Kehrer, Hugo: Über die Echtheit von Dürers Crucifixus, in: Zeitschrift für bildende Kunst, NF 27 (1916), S. 163-172.
[3] Schade, Werner: Die Malerfamilie Cranach, Dresden 1974, S. 86-87.
[4] Kroll Renate: E 62 Christus am Kreuz, in: Schade, Günter: Kunst der Reformationszeit. Ausstellung im Alten Museum vom 26. August - 13. November 1983, Staatliche Museen zu Berlin, Hauptstadt der DDR, Ausst.-Katalog, Berlin: Elefanten-Press-Verl. 1983 bzw. Flügel, Katharina (Bearb.): Kunst der Reformationszeit. Ausstellung im Alten Museum vom 26. August - 13. November 1983, Staatliche Museen zu Berlin, Hauptstadt der DDR, Ausst.-Katalog, Berlin: Henschel 1983, S. 367.
[5] Schade 1974, S. 95-96.
[6] Stirm, Margarete: Die Bilderfrage in der Reformation, Gütersloh 1977 (zugl.: Berlin, Kirchl. Hochschule, Diss., 1973 u.d.T.: Stirm, Margarete: Die Bilderfrage bei den Reformatoren), S. 79-80; 87-89; 113 und D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. J. F. Knaake [u. a.], 61 Bd., Weimar 1883-1983, Bd. 2, S. 131-143; Bd. 48, S. 194-200.
[7] Koepplin, Dieter: Kommet her zu mir alle. Das tröstliche Bild des Gekreuzigten nach dem Verständnis Luthers, in: Löcher, Kurt (Hrsg.): Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Vorträge zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg 1983, Heidelberg [1988] (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 194), S. 183-185.
[8] Koepplin 1988, S. 185.
[9] Vgl.: Schulze, Ingrid: Lucas Cranach d. J. und die protestantische Bildkunst in Sachsen und Thüringen. Frömmigkeit, Theologie, Fürstenreformation, Bucha bei Jena 2004 (Reihe Palmbaum Texte. Kulturgeschichte, Bd. 13), S. 203-204.
[10] Vgl.: Schulze 2004, S. 203-206.
[11] Wimböck, Gabriele: Wort für Wort, Punkt für Punkt. Darstellungen der Kreuzigung im 16. Jahrhundert in Deutschland; in: Steiger, Johann Anselm; Heinen, Ulrich (Hrsg.): Golgatha in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit, Berlin [u. a.]: 2010, S. 172.
[12] Koepplin; Falk 1976, Bd. 2, S. 470.
[13] Schulze 2004, S. 206.
[14] Koepplin 1988, S. 166-171.
[15] Wimböck 2010, S. 174.
[16] Eligiae à Johan: Maiore D. conscriptae: Deo, et virtuti, o. O. 1584, B 4r und B 5v: Elegia De Christo, In Agone constituto.
[17] Vgl.: Tschackert, Paul: „Major, Johann“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 20 (1884), S. 111 und Ludwig, Ulrike: Philippismus und orthodoxes Luthertum an der Universität Wittenberg. Die Rolle Jakob Andreäs im lutherischen Konfessionalisierungsprozeß Kursachsens (1576-1580), Münster: Aschendorff 2009 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte Bd. 153), S. 55-59, 78-125, 221-222.
[18] Schulze 2004, S. 211; Wimböck 2010, S. 176.