Mitte des 12. Jahrhunderts verfasste der französische Dichter Benôit de Saint-Maure den "Roman de Troje", einen fiktiven Augenzeugenbericht von der Zerstörung Trojas durch Dares Phrygius, einen trojanischen Priester des Hephaistos.[1] Eine andere weit verbreitete Erzählung war Guido delle Colonnes "Historia Destructionis Trojae" aus dem späten 13. Jahrhundert.[2] Cranach muss zumindest eine der beiden Erzählungen gekannt haben, da zwei besondere Merkmale seiner Schilderung sich auf die Texte beziehen: Paris als Jäger und nicht als Hirte, wie es in den antiken Quellen heißt [5], und Paris' Zusammentreffen mit Merkur und den drei Göttinnen innerhalb eines Traumes. Guidos Text liefert sogar weitere Details für Cranachs Komposition: die Handlung findet "im einsamsten Teil des Waldes" auf dem Berg Ida statt, das Pferd ist an einen Baum gebunden und die Göttinnen präsentieren sich nackt, so dass Paris die individuellen Eigenschaften ihrer Körper für ein gerechtes Urteil betrachten kann.[6]
Cranach Darstellung wurde ebenso von frühen Drucken beeinflusst. Ein Kupferstich von 1460 vom Meister der Banderolen zeigt drei nackte Göttinnen, ihre Körper nur notdürftig mit einem durchsichtigen Schleier verdeckend, und Merkur, der den erwachenden Paris innerhalb einer üppigen Waldlandschaft zur Seite steht.[7] Eine Holzschnittillustration der Szene aus der Wittenberger Ausgabe des "Bellum Trojanum" des Dares Phyrigius von 1502 [8] stellt ebenfalls einen Vorläufer zu Cranach erste Schilderung des Themas, ein signierter und auf 1508 datierter Holzschnitt auf dem sich die Göttinnen gerade entkleidet haben, dar. Zu den abwechselnden Vorder- und Rückansichten der Körper konnte der Künstler von Jacopo de' Barbaris "Sieg und Ruhm" inspiriert worden sein, einem Kupferstich aus den Jahren 1498-1500, der in Nürnberg zirkulierte, wohin de' Barbari 1500 ging um für Kaiser Maximilian I. zu arbeiten.[9] Cranachs Holzschnitt wiederum diente mindestens einem Dutzend seiner gemalten Versionen als Vorbild, beginnend mit seiner ersten Formulierung um 1510 (Kimbell Art Museum, Fort Worth). In diese Reihe gehört auch die vorliegende Tafel, ein wahrscheinlich spätere Adaption von um 1528. […]
Eine Skizze der Komposition, von den meisten zwischen 1527 und 1530 datiert [10], mag als Vorstudie zum New Yorker Gemälde und ähnlichen Versionen gedient haben.[11] Keine folgt aber dem Entwurf komplett, sondern variiert diesen im Bereich der Landschaft oder der Figurenmotive. Auch wenn die drei Göttinnen teilweise für Bildnisse von sächsischen Hofdamen gehalten wurden [12], so erscheinen ihre Gesichter zu schematisch für eine solche Annahme.
Wahrscheinlich basieren sie stattdessen auf Ölskizzen wie die Studie "Drei weibliche Köpfe" von um 1530, die Cranach für eine Vielzahl von Gemälden nutzte indem er kleine Veränderungen an den Gesichtszügen vornahm um den Eindruck individueller Personen zu erwecken.[13]
Die Überreste von Cranachs Signatur, die geflügelte Schlange, sind unter den Füßen der Göttin zur Linken sichtbar. Richard Förster übersah diese als er 1899 festhielt, das Gemälde sei weder signiert noch datiert.[14] Im gleichen Jahr nahm es Karl Woermann in die Liste der nicht authentischen Werke Cranachs und seiner Werkstatt auf [15]. Max J. Friedländer sah es als mittelmäßige, vielleicht signierte Arbeit an. Andere, unter ihnen Eduard Flechsig, schrieben es Cranachs Sohn Hans zu. [16]
Nachdem das Gemälde 1922-1924 in Nürnberg ausgestellt und 1928 verauktioniert wurde, bewertete es Friedländer positiver als eigenhändiges und tüchtiges Werk.[17] Im Ergebnis erwarb das Metropolitan Museum die Tafel und Harry Wehle veröffentlichte die erste substantielle Studie dazu seit Försters grundlegendem Aufsatz.[18] Wehle plädiert überzeugend für eine Datierung um 1528 indem er das Werk mit der Version gleichen Datums aus dem Kunstmuseum Basel vergleicht.[19] Verwirrung entstand als Friedländer und Rosenberg (später gefolgt von Charles Kuhn und Hans Posse) später publizierten, das Gemälde seit signiert und datiert 1529. Dieser Fehler wurde in der zweiten Auflage des Werkkatalogs behoben.[20] Kürzlich bemerkte Burton Dunbar, dass die Posen und Haltungen der Göttinnen als Quelle für die Figuren der drei Grazien (Nelson-Atkins Museum, Kansas City) dienten, welche 1535 datiert sind.[21] Er führt an, dass die Göttin, die in diesem Werk nach oben zeigt von der früheren Metropolitan-Venus abgeleitet sein muss, da Cupido über ihr keine ikonographische Erklärung für diese Geste bietet.
Eine der interessantesten Frage hinsichtlich Cranachs "Urteil des Paris" ist seine tiefere Bedeutung im Kontext seiner eigenen Epoche. Das Thema erfreut sich unter deutschen Humanisten größter Beliebtheit [22], weshalb Franz Matsche auf eine mögliche humanistische Lesart vom Dilemma des Paris im Hinblick auf die Philosophie des Conrad Celtis und seiner Nachfolger hinweist.[23] Dies beinhaltet die schwierige Entscheidung, welches Leben zu führen ist, die vita contemplativa, the vita activa oder die vita voluptaria. Das kontemplative Leben war am höchsten angesehen, dessen Beschwerlichkeit war anerkannt, ebenso wie der Umstand das Wissen in erster Linie durch Fehler erworben werden kann.
Hanne Kolind Poulsen betrachtete Matsches Interpretation im Lichte des Protestantismus. Sie führt an, dass die Schwierigkeiten des christlichen Lebens auf dem Weg zur Erlösung darin besteht, dass diese ausschließlich von göttlicher Gnade abhängt.[24] Diese Dilemma war Gegenstand einer Rede des Professors für die griechische Sprache Nicolaus Marschalk, gerichtet an Studenten, die ihr Studium 1503 an der Universität Wittenberg abschlossen.[25] Vor dem Fehlurteil des Paris warnend, ermahnte Marschalk die Studenten dazu, sich vor der Macht der Venus und vor Frauen im Allgemeinen in Acht zu nehmen und statt dessen Minerva zu folgen. Diese biete Sparsamkeit, Schamhaftigkeit, Bescheidenheit, Keuschheit und Fleiß, welche die Stufen der Gelehrsamkeit, der Weisheit und der restlichen Tugenden sowie der höchsten Freuden darstellten.[26] Ein Jahr nach Marschalks Rede, veröffentlichte einer seiner Wittenberger Schüler, Hermann Trebelius, eine Warnung gegen die Macht der Venus im Vorwort eines Gedichts über das Urteil des Paris vom neapolitanischen Dichter Johannes Baptista Cantalicius.[27] Die eher grobe Holzschnittillustration dieser Veröffentlichung war ein wichtiger Vorläufer von Cranachs erstem Holzschnitt diesen Themas aus dem Jahr 1508. In diesem Zusammenhang betrachtet, haben Cranachs Holzschnitte und seine Gemälde eine belehrende Funktion indem sie vor den Reizen der Frauen warnen, einem Thema, das aus dem damals populärem Thema der "Weibermacht"-Darstellungen entstanden ist, ebenso wie Cranachs Samson und Delilah. Dieter Koepplin argumentiert, dass Marschalks moralisierende Interpetation, basierend auf den Schriften des Fulgentius, die Quelle für Cranachs Ausführung der Erzählung gewesen sei.[28]
Zweifel an dieser humanistischen Interpretation äußerte Berthold Hinz. Seiner Meinung müsse für eine solche Interpretation die drei Gottheiten eindeutig zu identifizieren sein, damit sie mit den drei Wegen der Lebensführung verbunden werden konnten. Diese Voraussetzung sei aber in Cranachs Formulierungen nicht erfüllt. Hinz sieht in der Gleichheit der drei Göttinnen den Versuch ein Spiel von Vorstellungen und Bedeutungen zu eröffnen [30] und auf diese Weise vielleicht ein Element der Ambiguität und Möglichkeit gegenteiliger Bedeutungen einzuführen. Dies wiederum habe wenig mit dem strengen Humanismus, der in Gemälden von Zeitgenossen, wie Dürer und Burgkmair, zu finden sei, gemein.[31]
Das Parisurteil kann außerdem in einem sozio-historischen Kontext verstanden werden. Inge El-Himoud-Sperlich hat Cranachs Darstellungen des Parisurteils als Dekorationen für Schlafgemächer angesehen, da eine solche für das Hochzeitgemach von Margaretha von Anhalt, die 1513 Herzog Johann von Sachsen heiratete, belegt ist. El-Himoud-Sperlich nimmt an, dass diese Werke nicht als Warnung an Männer vor falschen Entscheidungen gemeint waren, wie Koepplin annahm, sondern vielmehr eine Versicherung der Frauen, dass ihre Ehemänner sich für Liebe und Schönheit entschieden haben.[32]
Koepplin untersucht in einer neueren Behandlung des Themas Parisurteils einige ungewöhnliche Aspekte, nämlich dass Cupido seinen Pfeil auf Venus statt auf Paris richtet sowie die fehlende Möglichkeit die drei Göttinnen zu unterscheiden. Koepplin führt an, dass die Position des Cupido die Macht der Venus mehr betont als die Schwäche des Paris.[33] In der Austauschbarkeit der Göttinnen sieht Koepplin zwar eine moralisierende Botschaft, dieser Aspekt spiegel aber auch Cranachs Hang neue Bedeutungsebenen zu eröffnen wider, eben wie die positive Seite der Macht der Venus, exemplifiziert in einem Hochzeitsbild.[34]
Ebenso interessant wie kontrovers ist Helmut Nickels Interpretation des vorliegenden Gemäldes als alchemistisch.[35] Nickel verstand das Gemälde als Darstellung der drei Stufen der sogenannten Großen Welt. Dabei handelt es sich um die Umwandlung eines Ausgangsmaterials zu Gold. Die drei Göttinnen stehen als Personifikationen für die drei Stadien. Seine Argumente wurden von anderen Forschern bisher nicht aufgegriffen.
Es wird klar, dass es eine weite Spannbreite von möglichen Deutungen des Themas vorhanden ist. Seine Popularität, unter Beweis gestellt durch die hohe Zahl der erhaltenen Tafeln, hat vielleicht auch zu Cranachs Zeiten zu den unterschiedlichsten Interpretationen verleitet.
[1] Frazer 1966. Für eine Übersicht der Wandlung dieser Geschichte innerhalb der Kunst, vgl. M. Rosenberg 1930. Vgl. außerdem R. Förster 1899, S. 267 – 69.
[2] Vgl. Colonne 1936 (Hg.); Colonne 1970 (Hg.); Colonne 1974 (Hg.).
[3] Möglicherweise aus der Wittenberger Ausgabe von Phrygius Bellum Troianum von 1502.
[4] R. Förster 1899, S. 267 –269.
[5] Lucian Version der Geschichte zum Beispiel macht aus Paris einen Hirten. Vgl. Lucian 1921(Hg.), S. 393.
[6] Colonne 1974 (Hg.), S. 60.
[7] Lehrs 1908 – 34, Bd. 4 (1921), Nr. 90, 91. Für einen anderen Kupferstich mit dem Urteil des Paris vom Meister der Banderolen, vgl. Dieter Koepplin in Basel 1974, Bd. 2, S. 624 – 25.
[8] Koepplin schreibt diesen Druck einem anonymen Erfurter oder Wittenberger Künstler zu und behandelt ihn als einen Vorläufer zu Cranach Holzschnitt von 1508. Vgl.Koepplin in Basel 1974, Bd. 1, S. 211, Bd. 2, S. 622 – 24, Nr. 528a, Abb. Bd. 1, S. 213, Abb. 116.
[9] Ferrari 2006, S. 120 – 21, Nr. 9. Vgl. auch Bierende 2002, S. 209 – 12.
[10] J. Rosenberg 1960, S. 23, Nr. 46; Thöne 1965, Abb. S. 78 – 79; du Colombier 1966; Dieter Koepplin in Basel 1974, Bd. 2, S. 494, Nr. 345; Biedermann 1981, S. 312 (der die Zeichnung früher datiert, um 1525). Michael Hofbauer (2010, S. 384 – 85, Nr. 189) schreibt die Zeichnung Cranach dem Jüngeren zu.
[11] Zu den weiteren Varianten zählen: Aufzählung bei Friedländer und J. Rosenberg 1978, heute Kimbell Art Museum, Fort Worth, um 1512 – 14 (Nr. 41); Seattle Art Museum, ca. 1516 – 18 (Nr. 118); Statens Museum for Kunst, Copenhagen, datiert 1527 (Nr. 252); Kunstmuseum Basel, datiert 1528 (Nr. 253); Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, datiert 1530 (Nr. 255); Anhaltische Gemäldegalerie Dessau (verloren seit 1945), ca. 1535 (Nr. 256); Steiermärkisches Landesmuseum Joanneum, Graz, ca. 1530 – 35 (Nr. 257); Saint Louis Art Museum, ca. 1537 (Nr. 258); Schloss Museum Gotha, nach 1537 (Nr. 409); Collection of Her Majesty Queen Elizabeth II, Hampton Court Palace, nach 1537 (Nr. 409a); Gemäldegalerie, Berlin, nach 1537 (Nr. 409a); Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen (nicht in Friedländer and J. Rosenberg 1978).
[12] El-Himoud-Sperlich 1977, S. 56, 63.
[13] Diese Zeichnung steht in enger Verbindung zu einem Gemälde der Drei Grazien, das sich vormals in einer englischen Privatsammlung befand (Friedländer und J. Rosenberg 1978, S. 119, Nr. 251A); vgl. Brinkmann in Frankfurt und London 2007 – 8, S. 292, Nr. 85. Vgl. auch Hofbauer 2010, pp. 168 – 69, Nr. 52.
[14] R. Förster 1899, S. 267. Förster könnte dies aufgrund der Übermalungen nicht gesehen haben.
[15] Woermann in Dresden 1899, S. 78 – 79, Nr. 121.
[16] Friedländer 1899, S. 246; Flechsig 1900, S. 282, Nr. 121.
[17] Friedländer an das Metropolitan Museum, 24. Oktober 1928 (Werkakte, Department of European Paintings, MMA).
[18] Wehle 1929 – 30.
[19] Ebd., S. 9; wiederholt von Wehle und Salinger 1947, S. 201.
[20] Friedländer und J. Rosenberg 1932, S. 68, Nr. 209; Kuhn 1936, S. 38, Nr. 98; Posse 1943, S. 61, Nr. 86; Friedländer and J. Rosenberg 1978, S. 120, Nr. 254.
[21] Dunbar 2005, S. 85.
[22] Koepplin in Basel 1974, Bd. 2, S. 613 – 31.
[23] Matsche 1996, S. 59 – 67.
[24] Poulsen 2003, S. 140. Dieser Interpretation fehlt ein Textbeleg über die Pariserzählung innerhalb der theologischen Literatur des 16. Jahrhunderts.
[25] Marschalk 1503/1967, S. 37.
[26] Ebd., S. 41; vgl. auch Koepplin in Basel 1974, Bd. 2, S. 616.
[27] Vgl. Koepplin in Basel 1974, Bd. 1, S. 211, Bd. 2, S. 622 – 24, Nr. 528a. Der zugehörige Holzschnitt erscheint auch in einer Ausgabe des Dares Phrygius Bellum Troianum erschienen in Wittenberg in 1502 (vgl. Bierende 2002, S. 205 – 6; vgl. auch Diskussion und Anmerkung 13).
[28] Vgl. Fabius Planciades Fulgentius, Mitologiarus libri tres (in Fulgentius 1898 [Hg.], S. 3 – 80), für seine moralisierende, allegorische Interpretation der Pariserzählung; Koepplin in Basel 1974, Bd. 2, S. 622. Für eine weitere Theorie, basierend auf Ficinians Vorstellung der Schwierigkeit im Treffen moralischer Entscheidungen und die Nutzwendigkeit Fehler zu machen vgl. Matsche 1994; Matsche 1996.
[29] Hinz 1994, S. 179; vgl. auch Hinz 2005.
[30] Hinz 1994, S. 177 – 78.
[31] Bierende (2002, p. 384, n. 84) widerspricht Hinz' Ansicht.
[32] El-Himoud-Sperlich 1977, S. 72 – 73. Zur Untermauerung ihrer Theorie argumentiert El-Himoud-Sperlich dass Cupido im vorliegenden Gemälde mit seinem Pfeil auf die linke Göttin zielt, die sie als Venus identifiziert (obwohl Cupido deutlich auf die mittlere Göttin zielt, bei der es sich mit höherer Wahrscheinlichkeit um Venus handelt). Sie sieht das Verhüllen der Venus vor dem Blick des Paris als Anzeichen eines keuschen Werbens.
[33] Koepplin 2003b, S. 52.
[34] Ebd., S. 54.
[35] Nickel (Helmut) 1981, S. 123 – 27, 129.
[Ainsworth, Cat. New York 2013, 54-58, 286, No. 11]