Das Bildnis zeigt Luther nach rechts mit Bart und schwarzem Gewand vor grünem Grund und mit seiner rechten Hand auf dem Knauf eines Schwertes. Zusammen mit dem in Format und Ausschnitt größeren Bildnis Luthers als „Junker Jörg“ in Weimar (II.M2) gehört das vorliegende Porträt zu den meistbesprochenen Luther-Bildnissen überhaupt. Dies ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die Forschung seine Entstehung schon früh mit der kurzen Rückkehr Luthers von der Wartburg nach Wittenberg zwischen dem 3./4. und 12. Dezember 1521 verknüpft hat.[2] Die Entstehung im Kontext dieses Besuches wird neuerdings in Frage gestellt.[3]
Die Tafel besteht aus einem hochrechteckigen, astfreien Buchenholzbrett in vertikaler Ausrichtung und mit radialem Brettschnitt.[4] Anhand eines Röntgenbildes konnte die rückseitig umlaufend gefalzte Tafel erstmals dendrochronologisch untersucht werden. Danach stammt der jüngste datierbare Jahrring aus dem Jahr 1519.[5] Unter der Voraussetzung, dass der gesamte Stammquerschnitt genutzt und nur die Rinde entfernt wurde, könnte das Gemälde bei einer Mindestlagerzeit des Holzes von zwei Jahren ab 1521 entstanden sein.[6] Zudem ist belegt, dass spätestens im Jahr 1523 Bildnisse dieser Art vorgelegen haben müssen: In einem Brief vom 26. April 1523 berichtet der Magdeburger Vogt Sebastian Langhans[7], dass er beim Buchführer Nickel Apfelstedt „[e]in brett der vf en bilde Lucrecie außerhalben gemahlet Vnnd Inwendig Ein Brustbilde Martin Luthers von Wittenberg Contrefactur mit dem Schwerte vnnd barte In einer schwarzen Jopen“[8] konfisziert hätte. Diese quellenmäßige Überlieferung legt nahe, dass es neben den beiden bekannten Gemälden in Leipzig und Weimar weitere „Junker Jörg“-Bildnisse gegeben haben könnte, die nicht überliefert sind.
In der Unterzeichnung des Leipziger Gemäldes sind die Außen- und Binnenkonturen in flüssigem schwarzen Farbmittel und Pinsel mit wenigen Linien angegeben.[9] Projiziert man die Konturlinien des Gesichts in gleichem Maßstab auf die Weimarer Version (II.M2) sowie den Holzschnitt des „Junker Jörg“ (II.D1), so zeigen wesentliche Linien einen deckungsgleichen Verlauf (vgl. Einleitung zu Bildnisgruppe II). Dies lässt auf die Verwendung einer gemeinsamen Vorlage schließen. Beide Gemäldeunterzeichnungen weisen zudem abschnittsweise Merkmale einer langsamen und nachvollziehenden Pinselführung auf, was auf das Nachzeichnen einer mittels IRR nicht zu visualisierenden Anlage hindeuten könnte.
Abgesehen von der Ähnlichkeit in der Unterzeichnung werden beim Weimarer Bildnis neben der abweichenden Wahl des Bildausschnitts und -formats und der veränderten Handhaltung auch maltechnische Unterschiede deutlich.[10] Die einzelnen Farbflächen sind mit geringer Überlappung nebeneinander gesetzt, wobei die Formen mit der jeweils angrenzenden Farbe partiell korrigiert und präzisiert wurden.[11] Die dabei verwendeten Pigmente entsprechen weitgehend der für die Weimarer Version verwendeten Palette, allerdings weicht die Zusammensetzung des Grüns im Hintergrund ab.[12] Einzelne Farbpartien (Haar, Wams und Schwertknauf) wurden streifig halbdeckend braun unterlegt, um die reflektierende Wirkung der Grundierung zu mildern.[13] Auffällig sind die fast grafisch wirkenden, mit feinen weißen Pinselstrichen auf das schwarze Wams gesetzten Faltenhöhen, die partiell mit Schwarz vertrieben wurden, um den harten Kontrast zu brechen.[14] Der pastos mit deutlichem Pinselduktus ausgeführte Hintergrund umfährt in den Grenzbereichen die Konturen von Kopf und Gesicht und folgt in den Randbereichen dem Bildformat. Partiell ist die Form der Schulterpartie mit der grünen Farbe des Hintergrundes korrigiert worden. Die schwarz aufgemalte Umrahmung ist in ihrem heutigen Aussehen eine spätere Zutat, sie befindet sich auch auf Ausbesserungen der Rahmenvergoldung. Ob die Darstellung auch ursprünglich mit einer schwarzen Einfassung versehen war, ist unbekannt.
Die Röntgenuntersuchung erbrachte den Nachweis, dass die Tafel am unteren Rand nachträglich beschnitten wurde. Während am oberen und den seitlichen Tafelrändern Grundier- und Farbgrat erhalten sind,[15] sind diese am unteren Tafelrand durch den Beschnitt verloren. Die Darstellung wurde dabei um mindestens 1,4 cm beschnitten.[16] Der entstehungszeitliche[17] Nutrahmen wurde durch Eingriffe an den seitlichen Rahmenschenkeln an das veränderte Format angepasst.[18]
Auf dem oberen Schenkel des Rahmens befindet sich rückseitig ein mit dem Schnitzeisen eingetieftes Zeichen, das bislang nicht identifiziert werden konnte.[19] Nachdem es sich schon allein der sorgfältigen technischen Ausführung nach nicht um eine Wald- oder Hausmarke handeln dürfte,[20] und die Existenz von Rahmenmacher-Marken bislang nicht belegt ist, wäre denkbar, dass es sich um eine Besitzmarke handelt. Die Rückseiten von Gemälde und Rahmen lassen keine eindeutigen Rückschlüsse auf den ursprünglichen Verwendungszusammenhang des Bildnisses zu; eine Präsentation an einer Wand hängend erscheint plausibel.[21]
Das Leipziger Bildnis wurde 1912 in das Museum der Bildenden Künste überführt, nachdem es knapp zweihundert Jahre zum Bestand der um 1677 gegründeten Leipziger Ratsbibliothek gehört hatte. Die Inventare und Bestandskataloge der Ratsbibliothek legen einen Eingang des Gemäldes um 1722 nahe.[22] Über die Geschichte der Tafel vor diesem Zeitpunkt kann nur gemutmaßt werden. Das rückseitig angebrachte Wachssiegel zeigt das Wappen der Freiherren von Neuhausen[23], die offenbar Eigentümer der Tafel waren. Susanne Heiland vermutete 1983, dass die Tafel aus Luthers eigenem Besitz stamme. Luthers jüngster Sohn Johannes war eigenen Angaben zu Folge im Besitz einer „rechten Contrafey meines lieben Vaters seligen, wie er in Pathmo gewesen, welchen der alte Lucas Cranach abgemahlet“.[24] Da die Ehefrau des Sohnes, Anna von Warbeck, dem schwäbischen Adel entstammte, hält Heiland einen Verkauf an die ebenfalls in Schwaben ansässigen Freiherrn von Neuhausen für möglich.
Daniel Görres, Wibke Ottweiler
[1] Die Tafel ist unten beschnitten; da sie sich in einem entstehungszeitlichen Nutrahmen befindet, wurden die Maße anhand des Röntgenbildes ermittelt.
[2] Vgl. dazu Brecht 1986, S. 38. Zu Luthers Ankunft in Wittenberg in der Verkleidung als „Junker Jörg“, in der Cranach ihn porträtiert haben soll, liegen durch Matthäus Ratzeberger und Johannes Mathesius anekdotische Überlieferungen von Zeitgenossen Luthers vor, die jedoch erst deutlich nach dessen Tod erschienen sind. Diese werden etwa bei Lindau 1883, S. 189–190, ausführlich als Quellen herangezogen und oft in der älteren Cranach-Forschung aufgegriffen, weshalb schon Flechsig 1900b, S. 189, sie als bekannt voraussetzen konnte. Zugleich wurde der Versuch unternommen, wahlweise eines der beiden überlieferten „Junker Jörg“-Gemälde (II.M1 und II.M2) oder den entsprechenden Holzschnitt (II.D1) auf diese Anekdote zurückzuführen und es dadurch mit Luthers Biografie zu verknüpfen. Für die neuere Forschung ist Luthers quellenmäßig gesicherter Aufenthalt in der ersten Dezemberhälfte 1520 insofern von Bedeutung, als er die einzige Gelegenheit für Cranach geboten hat, Luthers neuartiges Erscheinungsbild in einer Porträtsitzung festzuhalten.
[3] Vgl. Kaufmann 2020, S. 26–47.
[4] Vgl. Holzartbestimmung bei Klein 26.10.2013. Original-Bericht in Objektakte MdBKL. Wie viele in der Cranach-Werkstatt verwendeten Buchenbretter zeigt auch dieses eine herausragende Qualität mit sehr gleichmäßigen, eng stehenden Jahrringen.
[5] Vgl. Klein 30.11.2020a.
[6] Vgl. ebd. zu anderen Befunden an weiteren Buchentafeln aus der Cranach-Werkstatt, wonach die bis 1525 entstandenen Gemälde eine Trocknungs- und Lagerdauer von 2–3 Jahren aufweisen. Der Durchschnitt aller dendrochronologisch ausgewerteten datierten Tafeln beträgt 4,5 Jahre. Vgl. dazu die Querauswertung der dendrochronologischen Befunde in Ottweiler, Wibke: Kunsttechnologische Beobachtungen an den frühen Luther-Gemälden aus der Werkstatt Lucas Cranach d. Ä. (in Vorbereitung). Ungeachtet anderer Faktoren wäre auf dieser Grundlage eine Entstehung des Leipziger Bildnisses in den frühen 1520er Jahren plausibel.
[7] Zur genaueren Einordnung und Diskussion dieser Quelle vgl. die Einleitung zu Bildnisgruppe II.
[8] Staatsarchiv Sachsen-Anhalt, Standort Magdeburg, A2, 617, fol. 23 recto; vgl. hierzu auch die Einleitung zu Bildnisgruppe II.
[9] Die unterschiedliche Strichbreite könnte durch den variierenden Auftrag des Farbmittels oder die Verwendung von zwei verschiedenen Pinseln erzeugt worden sein.
[10] Vgl. dazu den Katalogeintrag zu II.M2 sowie die kunsttechnologischen Untersuchungsberichte zu [DE_MdbKL_946] und [DE_KSW_G9].
[11] Beim Weimarer Bildnis (II.M2) ist in den Grenzbereichen der nebeneinander gesetzten Farbflächen wiederholt die Grundierung sichtbar.
[12] Die Pigmentanalyse weist auf die Verwendung von Bleiweiß, Zinnober und Kupferblau im Inkarnat, Ockerpigmenten im Haar sowie Kupfergrün, Bleiweiß und Blei-Zinn-Gelb für den hellgrünen Hintergrund hin. Die Verwendung von Blei-Zinn-Gelb für die Ausmischung des Grüntones unterscheidet den Farbaufbau vom Weimarer Bildnis (II.M2), welches über einem nur aus Kupfergrün und Bleiweiß ausgemischten Grünton eine ockerfarbige Lasur aufweist (vgl. dazu den Katalogeintrag zu II.M2) sowie die kunsttechnologischen Untersuchungsberichte zu [DE_MdbKL_946] und [DE_KSW_G9].
[13] Die braune Unterlegung lässt sich beim Weimarer Bild (II.M2) nur im Bereich von Haar und Bart beobachten.
[14] Im Röntgenbild ist die Modellierung des Wamses deutlicher sichtbar als im Auflicht, was auf das altersbedingte Transparentwerden des für die Modellierung verwendeten Bleiweißpigments zurückzuführen sein dürfte. Beim Weimarer Bildnis ist dieses Phänomen weitaus deutlicher ausgeprägt, eine Modellierung ist dort mit bloßem Auge kaum noch erkennbar.
[15] Diese korrespondieren mit den Rahmenschenkeln und sind durch das altersbedingte Schrumpfen der Tafel jeweils um wenige Millimeter im Rahmenformat nach innen gewandert.
[16] Da der etwa 2 mm breite Grundiergrat an den beiden Seitenrändern und am oberen Rand etwa 2 mm innerhalb des Rahmenformates endet und die Tafel außerhalb des Grundiergrates noch etwa 1 cm unter den Rahmenschenkeln hinweg verläuft, muss ein Verlust von mindestens 1,4 cm am unteren Bildrand angenommen werden. Eine im Röntgenbild am unteren Tafelrand nachweisbare Ritzlinie, die in die schon durchgetrocknete Malerei eingezogen worden zu sein scheint, gab wohl den Verlauf der Schnittkante zur Tafelkürzung vor und könnte auch dazu gedient haben, das Splittern der Malschicht durch einen Sägeschnitt zu verhindern.
[17] Nach technischer und stilistischer Beurteilung könnte der Rahmen zur Entstehungszeit des Gemäldes hergestellt worden sein. Er zeigt denselben technischen Aufbau wie andere erhaltene Nutrahmen der Cranach-Werkstatt etwa bei IV.M6, IV.M11 und IV.M12.
[18] Im Röntgenbild sichtbare horizontale Schattenlinien deuten darauf hin, dass die Seitenschenkel des Rahmens unter Erhaltung der unteren Eckverbindungen gekürzt wurde. Die Fugen wurden offenbar ausgekittet und die Fassung darüber erneuert.
[19] Ob es sich dabei um die Ligatur zweier Buchstaben handelt, konnte bislang nicht eruiert werden.
[20] Schriftliche Mitteilung von Michael Rief, Suermondt-Ludwig-Museum Aachen, vom 17.08.2020.
[21] Die Tafelrückseite ist insgesamt recht sorgfältig geglättet, weist aber Spaltspuren in Form eines tiefen Kerbschnitts unten links auf. Der dünne, dunkelbraune Rückseitenanstrich von Tafel und Rahmen könnte entstehungszeitlich sein. Neben etlichen jüngeren Befestigungsspuren in der Rahmenrückseite finden sich wenige im Querschnitt rechteckige Löcher mittig im oberen Rahmenschenkel, die von handgeschmiedeten Nägeln stammen und im Zusammenhang mit einer ursprünglichen Aufhängung stehen könnten.
[22] Heiland 1983, S. 2, weist auf den fälschlich als Selbstbildnis Cranachs ausgewiesenen Titelkupferstich bei Reimer 1761 hin, der aber das vorliegenden Bildnis in der Ratsbibliothek wiedergibt. Als Künstlerselbstbildnis war II.M1 offenbar von Anfang in den Leipziger Inventaren geführt worden und tritt unter dieser Bezeichnung erstmals bei Weitz 1722, b3r auf.
[23] Siebmacher 1772; vgl. dazu Heiland 1983, S. 3.
[24] Zitiert nach ebd., S. 2.
Quellen / Publikationen:
Weitz 1722; Weitz 1725; Reimer 1761, Titelseite; Ausst.-Kat. Leipzig 1817, Nr. 1; Gurlitt 1896, S. 351; Ausst.-Kat. Dresden 1899, Nr. 114; Flechsig 1900b, S. 63, 108–109, 255, 257, 282; Vogel 1918, S. 57–64; Ficker 1920, S. 43–50; Ausst.-Kat. Berlin 1937, Nr. 44; Giesecke 1939, S. 21ff.; Lüdecke 1953, S. 21ff., 68f., 110f.; Jahn 1961, S. 40; Ausst.-Kat. Warschau 1961, Nr. 16; Schade 1972; Schade 1974, S. 52, Anm. 362; Friedländer / Rosenberg 1979, S. 100, Nr. 148; Heiland 1983; Ausst.-Kat. Berlin 1983a, S. 135, Nr. B 75.2; Warnke 1984, S. 6; Ausst.-Kat. Wien 1989/1990, Nr. V/2/6; Hoffmann 1990, S. 25; Ausst.-Kat. Bonn 1994, S. 62–63; Schuchardt 2004, S. 17–18; Zocher 2006, S. 15; Heydenreich 2007b, S. 75, Anm. 335, 336; Ausst.-Kat. Frankfurt am Main 2007, S. 190–191, Nr. 39; Görres 2017, S. 46; Ausst.-Kat. Düsseldorf 2017, S. 193, Nr. 96; Kaufmann 2020, S. 44–49; Ausst.-Kat. Aachen 2021, Nr. 153; Ausst.- Kat. London 2021, Nr. 102.