Der Cranach-Altar in der Schneeberger St. Wolfgangskirche
(Für eine ausführliche Würdigung des Altares, seiner Historie und Ikonografie siehe: Pöpper, Thomas [Text]/ Pietsch, Jürgen M. [Fotos], Ein ›bildgewordener Kirchentraum‹. Das Reformationsretabel in St. Wolfgang, Schneeberg/Erzgebirge von Lucas Cranach dem Älteren. Mit einem Vorwort von Frank Meinel und einer Quellenedition von Dietrich Lücke [= Schätze Mitteldeutschlands, 5], Spröda 2012 [z.Zt. im Druck]).
Zur Bedeutung
Das bei Lucas Cranach dem Älteren in Auftrag gegebene und 1539 in der St. Wolfgangskirche in Schneeberg errichtete Retabel ist nicht nur das umfangreichste und komplexeste Altarwerk, das die Cranach-Werkstatt fertigte. Es stellte auch das Initial protestantischer Kirchenausstattung in Sachsen dar: Das Schneeberger Bildwerk ist das erste Reformationsretabel; mit ihm wurde das theologische Konzept des lutherischen ›neuen Glaubens‹ erstmals auf einen Altar gehoben. Somit geht seine Bedeutung weit über die Kreise alt- und mitteldeutscher Kunst hinaus. Der Rang des Retabels ist ein europäischer.
Zum Programm
Trotz – oder gerade wegen – seines vorderhand innovativen, ja epochalen Gehalts, rekurrierten die äußere Form und die technische beziehungsweise liturgische Funktion des Retabels auf spätmittelalterliche, vorreformatorische Muster. Der heutige, in den 1990er Jahren geschaffene metallene Rahmen (aus Argentan oder Neusilber) erlaubt genau eine Wandlung beziehungsweise zwei Zustände, die sogenannte ›Alltags-‹ und die sogenannte ›Festtagsansicht‹. Sie zeigen stets das Letzte Abendmahl (Predella) sowie das Gesetz-und-Gnade-Bild beziehungsweise einen Passionszyklus mit landesherrlichen Porträts. Es spricht einiges dafür, dass in der entstehungszeitlichen Montur des Retabels eine weitere Wandlung möglich war und sich hierbei die heutigen äußeren Standflügel der ›Alltagsansicht‹ über die inneren Flügel und das Mittelbild schließen ließen. In dieser Ansicht wären die Darstellungen zweier alttestamentarischer Strafgerichte, nämlich des Brandes von Sodom und der Sintflut vom Kirchenschiff sichtbar gewesen (heute gehören diese Szenen zum permanenten Programm der Retabelrückseite).
Gesichert ist, dass der Altar zu jeder Zeit und unabhängig vom präsentierten Zustand allseitig betrachtbar und umgehbar war. Dafür spricht nicht nur die aufwendig und zudem besonders kostbar gestaltete Rückseite mit der Darstellung des thronenden Christus im Jüngsten Gericht und der Scheidung der Seligen und Verdammten. Auch die Tatsache, dass im seit 1534 offiziell lutherischen Schneeberg das Abendmahl stets in der Form des Altarumlaufs gefeiert wurde (und wird), ist ein klares Indiz für die Annahme einer seit je freistehenden Platzierung. Das heißt, dass die Gemeinde heute wie ehedem zwischen dem Empfang des Brotes und dem Empfang des Weines den Altar schreitend umrundet und dabei die rückseitig mahnenden und warnenden Gerichtsszenen aus größter Nähe wahrnehmen kann.
In der unter dem Jüngsten Gericht stehenden rückseitigen Predella ist heute eine Inschriftentafel montiert. Sie wurde 1996 in das Programm eingefügt und ersetzt eine ehemals direkt auf das Weltgericht bezogene Darstellung der Auferstehung der Toten. Diese Tafel verbrannte am ›Schwarzen Tag von Schneeberg‹, dem 19. April 1945 (von ihr existiert eine Schwarz-Weiß-Fotografie).
Zur Historie
Im Dreißigjährigen Krieg (1616 bis 1648) musste Schneeberg zwei Plünderungen durch kaiserliche Söldnertruppen erleben. Im Ergebnis der Verheerung war der Altar auseinandergerissen und seiner Bildtafeln beraubt worden. Sie wurden als Faustpfand nach Böhmen verschleppt (1633). Doch konnte das Retabel gänzlich restituiert (1649) und bald darauf in St. Wolfgang wiedererrichtet sowie feierlich neu geweiht werden (1650). Eine Inschriften-, mehrere Wappen- und einige Bildnistafeln ergänzten damals den ursprünglichen Bestand (zwei der hinzugefügten Bildnistafeln haben sich im Schneeberger Museum für bergmännische Volkskunst erhalten).
Später, im 18. Jahrhundert, wurden nicht nur die Tafeln des Altarwerks, sondern auch seine Rahmung und seine Funktion als Wandelretabel endgültig demontiert. Die Flügel und sonstigen Bildfelder zersägte man in mehr als ein Dutzend Stücke, und zwar längs und quer zur Malschicht. Man teilte also auch beidseitig bemalte Tafeln, um sie anschließend nebeneinander betrachten zu können. Wie Galeriebilder hängte man sie an die Emporenpfeiler im Ostschluss der Kirche. Inwieweit einzelne Gemälde hierzu in ihrer Größe angeglichen und an den Rändern beschnitten wurden, ist nur annäherungsweise zu bestimmen. Vermutlich sind die diesbezüglichen Verluste aber zu vernachlässigen. Einige der fragmentierten Tafeln – nämlich das zentrale Kreuzigungs- und das Predellenbild mit der Darstellung des Letzten Abendmahls – integrierte man in einen barocken Altarapparat (errichtet zwischen 1709 und 1712; zerstört 1945). Bei dieser für das 18. Jahrhundert durchaus nicht untypischen Modernisierungskampagne könnte, trotz aller obwalteten ›denkmalpflegerischen‹ Umsicht, ein Gemälde mit der Darstellung des Pfingstwunders, von dem nur noch Schriftquellen zeugen, aus dem Zusammenhang gelöst worden sein. Von ihm fehlt bis heute jede Spur.
Weniger einen Eingriff in die Kohärenz des Programms, denn in den Bestand, stellte später – zumindest zeitweilig – die Abgabe zweier Flügeltafeln an die Dresdener Kunstsammlungen dar (1929); in Schneeberg ersetzte man das Fehlende durch Kopien (1933). Eine irreversible Schädigung traf den Altar im Zweiten Weltkrieg. Am bereits erwähnten Apriltag des Jahres 1945 wurde die Stadt bombardiert und St. Wolfgang in Brand geschossen. Beherzten Bürgern gelang es unter Lebensgefahr, fast alle Retabelbilder vor dem Feuer, das wenig später die gesamte Kirche zum Einsturz bringen sollte, zu retten. Von den Cranach'schen Gemälden zählt lediglich die Predella der Rückansicht mit der Darstellung der Auferstehung der Toten zu den Kriegsverlusten.
Erst 1996 konnte das restaurierte Retabel – nun wieder mit den aus Dresden zurückgetauschten originalen Flügeltafeln, in moderner metallener Montur und mit neuer Wandel-Funktionalität – in der rekonstruierten Kirche feierlich neu geweiht werden. In dieser Form steht der Altar heute vor uns – an jenem Ort, für den er vor über 470 Jahren geschaffen wurde.
Zum Auftrag
Die Zuschreibung des Retabels an Lucas Cranach den Älteren steht außer Frage, und dies nicht nur aus stilistischen, sondern auch aus archivarischen Gründen. Das ›Kastenbuch‹ der Kirchgemeinde aus dem Jahr 1538/1539 nennt »meister lucas maler, zu wittenpergk« unzweideutig als Zahlungsempfänger. Er handelte hierbei als – auch im juristischen Sinn – verantwortlicher Werkstattvorstand. Indes wurde das Werk sehr wahrscheinlich arbeitsteilig hergestellt. Mehrere Hände von nicht immer sicher zu identifizierenden Mitarbeitern, aber auch – und zwar in den größten Partien – jene Lucas Cranach des Älteren und seines Sohnes, Lucas Cranach des Jüngeren, malten hierbei nebeneinander.
Das erwähnte Rechnungs- oder Kassenbuch erlaubt aber auch den Schluss, dass es höchstwahrscheinlich nicht die auf dem Retabel im Porträt gezeigten ernestinischen Landesherren, sondern die Bürgerschaft beziehungsweise die evangelische Kirchgemeinde waren, die Lucas Cranach den Älteren beauftragt und mit der stattlichen Summe von 357 Gulden und 3 Groschen entlohnt hatten.
Zum Schluss
Trotz vermehrter wissenschaftlicher Beachtung und publizistischer Würdigungen in jüngster Zeit sowie trotz einiger wichtiger archivarischer Neufunde, bleibt ein nicht unerheblicher Forschungsbedarf zu konstatieren (u.a. zur Ikonografie, zur Auftraggeberschaft, zur Wandelbarkeit, zur ›verschwundenen‹ Signatur, vor allem aber zur Frage der Händescheidung). Feststeht jedoch, dass das prima vista noch ›katholische‹ Sehgewohnheiten bedienende Programm des Schneeberger Retabels erst im Detail die lutherische Dimension seines Gesamtkonzepts offenbart, eines Konzepts, das sich erst später, in den Altarbildern in Wittenberg und Weimar radikalisieren sollte (1547/1555). Damit ist das Schneeberger St. Wolfgangsretabel zu gleichen Teilen als ein Experiment beziehungsweise als »ein Testfall für die protestantische Bildkunst« (Michael Böhlitz 2005) sowie als ein Dokument des »allmählichen Übergang[s] von einer katholischen zu einer lutherischen Identität Sachsens« (Jenny Lagaude 2010) anzusehen.
Es bleibt aber das letztlich unergründliche ›Wunder‹ der Cranach'schen Kunst, in dem ›bildgewordenen Kirchtraum‹ (so wird der Altar in einem Gedicht von Kurt Arnold Findeisen [1883 bis 1963] genannt) nicht nur erstmals dem ›neuen Glauben‹ Form und Gestalt gegeben, sondern zugleich auch ein Symbol der bergmännischen Identität und erzgebirgischen Heimat geschaffen zu haben, das bis heute nichts von seiner ästhetischen Faszination und – hoffentlich! – religiösen Wirkmacht eingebüßt hat.
[Thomas Pöpper, 2012]