"Hinsichtlich Stil und Komposition bildet das Washingtoner Gemälde eine Gruppe mit anderen Gemälden, die Christus auf dem Schoß seiner Mutter stehend und Trauben essend zeigen [1]. […] Ein vergleichbarer Typus zeigt zusätzlich den Johannesknaben schlafend [2]. Weil das Kind auf einer Brüstung und nicht auf Marias Schoß steht, korrespondiert das Washingtoner Beispiel nicht vollständig mit den anderen Werken dieser Gruppe. Eine Abwandlung der Washingtoner Tafel, die 1972 im Schweizer Kunsthandel auftrat, beinhaltet in der oberen rechten Ecke ein Fenster mit Landschaftsausblick [3]. Die Größe der Landschaft scheint mit dem fehlenden Stück der Tafel aus Washington übereinzustimmen und lässt daher vermuten, dass der Hintergrund auch dieser Tafel einst mit einer Landschaft belebt war. Eine zweite Replik, die ebenfalls eine Landschaft zeigt, erschien vor Kurzem auf dem Kunstmarkt [4].
Interessanterweise ist die 'Madonna mit Kind' stark von den Werken Albrecht Dürers beeinflusst. Wie Talbot beobachtete, sind die sich kräuselnden Gewandfalten der Madonna und ihre geknotete Schärpe ähnlich zu jenen aus Dürers Kupferstich 'Madonna mit der Meerkatze' von um 1498 [5]. Das Motiv des stehenden Kindes und die Platzierung der Jungfrau hinter einer Brüstung im Vordergrund finden sich bei Madonnendarstellungen Giovanni Bellinis wieder, wobei es wahrscheinlich ist, dass Cranach diese durch Dürer vermittelt wurden. Dürers 'Maria mit dem schlafenden Kind zwischen dem Hl. Antonius und Sebastian', gemalt kurz nach seiner ersten Reise nach Venedig, beispielsweise zeigt das Christuskind auf der Brüstung im Vordergrund, mit der Jungfrau dahinter. Da Dürers Tafel von Friedrich dem Weisen für dessen Schlosskirche in Auftrag gegeben wurde, war es Cranach wohl bekannt [6]. Auch die Pose des kindlichen Christus, balancierend auf einem Bein, während das andere angehoben und gegen das Knie gestemmt ist, ist spiegelverkehrt in Dürers 'Madonna mit Kind' (National Gallery of Art, Washington, Inv. No. 1952.2.16a) zu finden, was vermutlich von Shapley erstmals beobachtet wurde. Diese Haltung führt sich erneut auf Bellini zurück und wurde von Dürer nach seiner ersten Reise nach Venedig gemalt [7]. Obwohl die Verwendung solch venezianisch inspirierter Elemente wie der Brüstung im Vordergrund möglicherweise in Cranachs Arbeiten um 1510 häufiger auftreten, findet man sie auch in späteren gereiften Werken, wie etwa der 'Madonna mit Kind und Engeln' (um 1525) (FR160) [8]."
[1] [Friedländer, Rosenberg 1978, Nos. 388, 389]
[2] [Friedländer, Rosenberg 1978, Nos. 386, 387, 392]
[3] Holz, 85 x 60 cm, Auktion, Galerie Fischer, Luzern, 25. November 1972, Nr. 2355, benannt als Werkstatt Lucas Cranachs des Älteren.
[4] Holz, 79.5 x 56 cm, [Auct. Cat. London 1991, No. 196]
[5] Talbot, Auszug des Katalogeintrags, 1966, in den NGA-Werkakten. Für Dürers Kupferstich [Bartsch, 42] vgl. [Strauss 1972, 42, 43, No. 21, Fig.] .
[6] Ausgeführt bei Talbot, Auszug des Katalogeintrags, 1966, in den NGA-Werkakten. Anzelewsky 1971, 134 -137, Nos. 39, 40 folgend, wird angenommen, dass der Mittelteil des Werks von einem niederländischen Künstler ausgeführt und möglicherweise von Dürer überarbeitet wurde als dieser die Flügel hinzufügte. Dies widerspricht nicht dem starken venezianischen Einschlag des Gemäldes.
[7] Fern Rusk Shapley, Diskussion, 19. Januar 1959, in den NGA-Werkakten.
[8] [Friedländer, Rosenberg 1978, No. 160]. Für ein Beispiel von Cranachs früheren Madonnas vor einer Landschaft und mit Weintrauben, die vom Kind oder der Mutter gehalten werden vgl. [Friedländer, Rosenberg 1978, Nos. 29, 30] (PL_DMW_FR029, ES_MTB_114-1936-1).
[Hand, Cat. Washington 1993, 32, 34]