Die Werkstatt von Lukas Cranach d. Ä. schuf bereits in den Jahren 1532/33 eine große Anzahl von Bildnispaaren von Martin Luther und Philipp Melanchthon (vgl. das Bildnispaar in Dresden, siehe [Exhib. Cat. Chemnitz 2005, Nos. 42.1, 42.2]. Die Bildnisse der beiden Reformatoren aus dem KHM sind ebenfalls von kleinem Format und unterscheiden sich hauptsächlich durch das hohe Alter der Dargestellten. Lucas Cranach d. J. griff also auf einen traditionellen Typus zurück, den er bereits bei dem 1559 datierten Bildnispaar von „Martin Luther“ und Philipp Melanchthon“, heute im Städel-Museum in Frankfurt, anwandte [Hollein, Sandner, Cat. Frankfurt 2011, Nos. 2320, SG349] Dieter Koepplin weist auf mehrere Bildnisse von „Martin Luther“ und „Philipp Melanchthon“ aus der Werkstatt Lucas Cranach d. J. hin, die in den Jahren 1570/80 entstanden sind [Exhib. Cat. Basel 1974, Bd. 2, 718-719]. Die Datierung und Zuschreibung der Wiener Bilder „nach Lucas Cranach d. J. um 1570/80“ dürfte auf seine Argumentation zurückgehen.
Bei den hier zitierten Vergleichsbeispielen aus dem Oeuvre Lucas Cranachs d. J. sind Luther und Melanchthon jeweils mit einem geöffneten Buch dargestellt, dessen Inschrift für den Betrachter gut lesbar ist. So ergibt sich auch inhaltlich ein Bezug auf die reformatorischen Bestrebungen der Porträtierten. Hingegen lässt sich für die Wiener Bildnisse kein derartiger Bezug herstellen. Der dunkle Hintergrund überdeckt vermutlich einen ursprünglich helleren, grauen Hintergrund, vergleichbar mit den anderen erwähnten Bildnissen Lucas Cranchs d. J. (siehe technologische Untersuchungen).
Das geschlossene Buch in den Händen Melanchthons betont die anatomischen Unstimmigkeiten zwischen Schultern, Armen und Händen. Die etwas fülliger angelegte Figur des Martin Luther dürfte dem ausführenden Maler weniger Probleme bereitet haben.
Darstellungen in illustrierten Bibeln um 1560 [Troschke 1939, Jg. 6, 15-28 z.B. Abb. 6, Philipp Melanchthon] sowie der Holzschnitt aus Melanchthons Todesjahr 1560 [Hollein, Cat. Frankfurt 2011, 49] zeigen, wie weit verbreitet dessen Altersbildnis auch in anderen Medien war. Weiterhin publizierte Cranach d. J. im Todesjahr von Martin Luther einen kleinen Holzschnitt, nach Vorbild der Lutherporträts aus den Jahren 1532/33 [Hofmann 1982, No. 46], [Bartsch 150], [Hollstein, Cat. Frankfurt 2011, 44 1b].
Für das Bildnispaar, das im Umfeld der Werkstatt Lucas Cranach d. J. entstanden sein dürfte und das vermutlich zum Urbestand der kaiserlichen Sammlungen gehört, trifft Werner Schades Annahme wohl zu, dass derartige Porträts politische Zwecke von Fürsten und Theologen zu erfüllen hatten; daher stand nicht die charakteristische Bildnisaufnahme im Vordergrund, sondern der Rückgriff auf bereits etablierte Formen [Schade1974, 105].
Ursprünglich war das kleine Bildnispaar wohl als zusammenklappbares Diptychon geschaffen worden. Reste einer Verzierung auf der Rückseite sowie Spuren eines über beide Tafeln gehenden Klebestreifens sprechen für die Vermutung, dass die Tafeln einst verbunden und auch ihre Rückseiten sichtbar waren (vgl. technologische Untersuchungen). Ab Mitte des 18. Jahrhunderts, als sich das Bildnispaar in der Schatzkammer befand, waren die Gemälde bereits getrennt präsentiert gewesen (vgl. Provenienzangaben).
Forschungsgeschichte: Seit Engerths Katalog von 1886 wird die Sammlung Erzherzog Leopold Wilhelm als Provenienz angegeben, das Gemälde wurde mit dem Eintrag Nr. NL 231 identifiziert [Engerth, Cat. Vienna 1886, Bd. III, 55-56, No. 1486]; [Cat. Vienna 1991, 47]: "231. Ein kleines Contrafrait von Öhlfarb auff Holcz des Philippi Melanton in schwartzen Rockh vnndt Huett. In einem schwarcz vnd vergulden Rämel, die Höche 1 Spann vnndt die Braidte 9 Finger. Original von Lucas Crainich." (Quelle: "Inventarium aller vnndt jeder Ihrer hochfürstlichen Durchleücht Herrn Herrn Leopoldt Wilhelmen [...] zue Wienn vorhandenen Mahllereyen [...]" ehem. Krumau, Fürstl. Schwarzenbergsches Centralarchiv. Publiziert in: [Perger 1883, LXXXVI–CLXXVII]. Gegen die Identifizierung spricht die Beschreibung des Philipp Melanchthon mit Hut, das Fehlen des Pendant-Bildnisses „Martin Luther“, sowie, dass die Höhe des beschriebenen Gemäldes inkl. Zierrahmen geringer wäre als die originale Tafel.
Die unsignierten Bildnisse waren im Schatzkammerinventar des 18. Jahrhundert als Gemälde Hans Holbein d. Ä. bezeichnet worden, während Mechel, der sie in die Gemäldegalerie holte, Lucas Cranach d. Ä. zuschrieb (vgl. Zuschreibungen). Schuchardt, der den schlechten Zustand der Gemälde bemängelte, urteilte, dass sie „besonders […] nach der Farbe“ eher dem Jüngeren Cranach zuzuschreiben wären. [Schuchardt 1851, Bd. 2, 140] Auch Waagen stufte die Bildnisse als „Fabriksarbeit“ ein und kritisiert die Zuschreibung an den älteren Cranach, dem damit „schweres Unrecht“ geschähe. [Waagen, Cat. Vienna 1866, 162, No. 25] In der Gemäldegalerie galt das Bildnispaar ab 1886 als Werke aus Cranach’s Schule [Engerth, Cat. Vienna 1886, Bd. III, 55-57, Nos. 1486, 1487]. Scheibler erklärt sie für „schlechte Kopien“ nach Cranach d. J. [Scheibler 1887, 300-301]. Seit der Neuordnung der Gemäldegalerie im Kunsthistorischen Hofmuseum nach 1892 waren die Bildnisse nicht mehr ausgestellt.
[Alice Hoppe-Harnoncourt, Kunsthistorisches Museum 2012]