Das Bildnis Luthers als Augustinermönch hat eine wechselvolle Deutungsgeschichte. Während es bis zur Jubiläums-Ausstellung anlässlich des 450. Jahrestages der Reformation 1983 im Germanischen Nationalmuseum von der Forschung weitgehend unbeachtet blieb, galt es ab 1983 als Schlüsselwerk. Es wurde nun als wichtiges Zeitdokument angesehen, das einen Umbruchsmoment in Luthers Leben authentisch wiedergibt. Das halbfigurige Bildnis auf grünem Grund zeigt Luther mit zugewachsener Tonsur in der Kutte des Augustinereremiten. Die Tonsur hatte Luther während seines Aufenthalts auf der Wartburg abgelegt (vgl. Bildnistyp II), von der er im März 1522 zurückkehrte. Die Kutte legte er jedoch erst im September 1524 endgültig ab.[3] Vor diesem Hintergrund und angesichts der schon 1983 identifizierten Vorlagen für das Bildnis wurde eine Datierung um 1522/1524 vorgeschlagen.[4]
Bei den genannten Vorlagen handelt es sich um den Kupferstich Lucas Cranachs d. Ä. (I.2D1), den Holzschnitt des „Junker Jörg” (II.D1) sowie das „Junker Jörg”-Gemälde in Weimar (II.M1). Die kritische Untersuchung der Beziehungen dieser Vorlagen zum Bildnis durch Daniel Hess und Oliver Mack im Jahr 2010 führte zu einer Neubewertung des Gemäldes.[5] Es zeigte sich, dass das Nürnberger Bildnis in seiner Unterzeichnung mit dem „Junker Jörg“-Holzschnitt (II.D1) spiegelbildlich in entscheidenden Gesichtskonturen in absoluter Größe übereinstimmt (vgl. [Einleitung zur Bildnisgruppe I]). Die Verwendung von Pergament im Nürnberger Bildnis, das in gedünntem und geöltem Zustand eine hohe Transparenz aufweist und zum Übertragen einer Vorlage geeignet ist, schien diesen Befund zu stützen.[6] Aufgrund der bereits 1983 entdeckten Übereinstimmungen von Kutte, Buch und der Haltung von Luthers rechter Hand mit dem Kupferstich I.2D1 sowie der Übereinstimmung von Luthers linker Hand mit dem Weimarer Gemälde II.M2, konnte das Nürnberger Gemälde schon in seiner zeichnerischen Anlage als Ergebnis eines Kompilationsprozesses charakterisiert werden. Der hier deutlich werdende Eklektizismus wurde als Kennzeichen der mit Luthers Tod einsetzenden Inszenierung des Reformators in verschiedenen Bildnistypen verstanden, wie sie etwa in dem auf 1572 datierten sogenannten „Luther-Triptychon“ Veit Thiems in der Kirche St. Peter und Paul in Weimar zu beobachten ist. Der linke Flügel dieses Triptychons zeigt Luther als Mönch zwar mit Tonsur, aber ansonsten mit frappanten motivischen Bezügen zum vorliegenden Bildnis.[7] Das Fehlen der Tonsur beim Nürnberger Bildnis wurde als Versehen des ausführenden Malers gedeutet, das ihm aufgrund des zeitlichen Abstands zum dargestellten Zeitpunkt habe unterlaufen können.[8]
Die jüngsten Untersuchungen lassen eine frühere Datierung des Bildnisses allerdings wieder plausibel erscheinen. Pergament als Malgrund insbesondere von Bildnissen wurde aufgrund seiner spezifischen Eigenschaften[9] in der nordalpinen Porträtmalerei des 16. Jahrhunderts als Malgrund geschätzt und nachweislich auch in der Cranach-Werkstatt wiederholt verwendet.[10] Seine Verwendung in ungrundiertem Zustand ist in der Cranach-Werkstatt für mehrere Bildnisse nachgewiesen.[11] Wie auch für andere Bildnisgruppen belegt, müssen in der Cranach-Werkstatt zeichnerische Vorlagen in verschiedenen Größen existiert haben, die zur Anfertigung von Pausen verwendet wurden.[12] So könnte auch für diesen frühen Bildnistypus eine Vorlage existiert haben, auf deren Grundlage Luther einerseits als Mönch, andererseits als Junker Jörg in einem kleinen und einem größeren Format ausgearbeitet wurde.[13] Im vorliegenden Fall könnte das Pergament der Abnahme einer Porträtzeichnung gedient haben, die in den Gesichtskonturen sowohl mit dem Holzschnitt Luthers als „Junker Jörg” (II.D1) als auch mit dem Augustinermönch (I.2D1) nahezu deckungsgleich gewesen sein dürfte: Während der Holzschnitt in absoluter Größe übereinstimmt, liegt der Kupferstich etwa um den Faktor 2,5 verkleinert vor. Dass auch innerhalb der Cranach-Werkstatt selbst einzelne Motive wie bestimmte Handhaltungen in unterschiedlichen Zusammenhängen mehrfache Verwendung fanden und dabei der anatomischen Richtigkeit nicht immer Rechnung getragen wurde, ist unbestritten.[14] Insofern müssen auch die dem Weimarer Gemälde (II.M2) entlehnte, ungelenk auf den Buchrücken gestützte Linke Luthers sowie die dem Kupferstich (I.2D1) entnommene Rechte nicht notwendig für eine spätere Entstehung sprechen.[15]
Die mit einem flüssigen schwarzen Zeichenmedium und Pinsel ausgeführte Unterzeichnung des Augustinermönchs ist mit bloßem Auge zu erkennen und im Infrarotreflektogramm deutlich sichtbar. In unterschiedlich breiten Pinselstrichen sind die Konturen des Gesichts, des Kopfes und der Haare wiedergegeben. Dabei weisen einige Stellen einen eher zögerlichen, nachvollziehenden Duktus auf (Lippen), während andere freier gezeichnet zu sein scheinen (Ohr).[16]
Die Maltechnik entspricht weitgehend der in der Cranach-Werkstatt bis um 1530 verbreiteten Praxis, zeigt aber in mehreren Details Unterschiede. Die grüne Hintergrundfarbe wurde wie beim Leipziger Junker-Bildnis (I.M1) aus Kupfergrün, Bleiweiß und Bleizinngelb ausgemischt, erscheint jedoch im Auftrag dünner und glatter. Weitere Abweichungen betreffen die Farbigkeit der Lippen, die hier einheitlich rosa gestaltet sind, während andere Exemplare stets eine unterschiedliche Ausmischung von Ober- und Unterlippe zeigen, sowie die Ausarbeitung der Augen, die durch vereinfachte Formauffassung und abgerundete Außenwinkel auffallen. Die betont erscheinenden Binnenkonturen sind dagegen auf die stark durchscheinende Unterzeichnung zurückzuführen.
Zentral für die Beurteilung und zeitliche Einordnung des Gemäldes ist die Unterzeichnung. Mit der Wahl eines flüssigen Unterzeichnungsmediums und der vergleichsweise freieren Formfindung etwa der Hände zeigt die Unterzeichnung Parallelen zu den „Junker Jörg“-Gemälden (II.M1, II.M2). Von den sparsamen Unterzeichnungen der späteren, ab 1525 entstandenen Luther-Bildnissen weicht sie dagegen deutlich ab, was der allgemeinen Entwicklung der Werkstatt-Praxis entspricht.[17] Dass die modellhaften Gesichtszüge nicht frei, sondern unter Verwendung einer Vorlage unterzeichnet zu sein scheinen, macht den funktionalen Charakter der Unterzeichnung deutlich.
Der dem Bildnis zugrunde liegende Kompilationsprozess setzt keine Porträtsitzung zwischen Maler und Dargestelltem voraus. Sowohl die flüssige Pinselunterzeichnung als auch der hellgrüne Hintergrund entsprechen der Gestaltung der früheren Bildnisse in der Cranach-Werkstatt bis um 1525.[18] Da auch die Übernahme einzelner Motive für eine neue Bildfindung eine übliche Werkstatt-Praxis darstellte, ist eine Entstehung im Kontext der frühen Luther-Bildnisse aus der Werkstatt Lucas Cranachs d. Ä. oder dessen näherem Umkreis durchaus denkbar. Eine Entstehung ist also sowohl zwischen März 1522 und September 1524 (was dem dargestellten Aussehen Luthers entspräche[19]) aber auch zu einem späteren Zeitpunkt möglich.
Daniel Görres, Wibke Ottweiler
[1] Das bemalte Pergament wurde laut Restaurierungsbericht vom 29.08.1956 von einer „Buchenholzplatte“ abgenommen und auf eine Buchensperrholzplatte übertragen.
[2] Das Gemälde entstammt der Paul Wolfgang Merkel’schen Familienstiftung und ist wohl mit dem im Nachlassverzeichnis Margarethe Elisabeth Merkels von 1831 genannten Eintrag gemeint: „Zwey Köpfe, Luther und Melanchthon, Kopie nach Cranach auf Holz“ (zit. nach Ausst.-Kat. Nürnberg 1979, S. 55). Beim erwähnten Bildnis Philipp Melanchthons handelt es sich um ein deutlich später zu datierendes Werk.
[3] Abweichend davon Hofbauer 2021, S. 253, der in dem Bildnis einen Beweis dafür sehen will, dass Luther bereits 1515 keine Tonsur mehr trug. Wie Hofbauer selbst anführt, wurde Luther in diesem Jahr zum Provinzialvikar der Augustinereremiten. Wie sich Luthers Amt mit dem Ablegen der Tonsur in Einklang bringen lässt, bleibt bei Hofbauer offen. Vgl. zu Luthers Provinzialvikariat Brecht 1983, S. 155–160.
[4] Vgl. Ausst.-Kat. Nürnberg 1983, Nr. 363.
[5] Vgl. Hess / Mack 2010.
[6] Vgl. ebd., S. 268.
[7] Vgl. hierzu auch Löcher 1997, S. 136.
[8] Hess / Mack 2010, S. 290.
[9] Die glatte Oberflächenstruktur und die mögliche Bewegungen des Holzträgers ausgleichenden Eigenschaften von Pergament machten eine Grundierung überflüssig. Die helle Farbigkeit sowie die Halbtransparenz lassen es für eine naturgetreue Darstellung von Inkarnaten besonders geeignet erscheinen.
[10] Vgl. dazu etwa Heimberg 1998, S. 52; Ainsworth 1999; Rief 2001, S. 27–35; Metzger 2010 und Strolz 2010, S. 34; zur Werkstatt Lucas Cranachs d. Ä. vgl. Heydenreich 2007b, S. 255–259. Neben dem Bildnis Luthers als Augustinermönch konnte im Rahmen dieses Projektes das ebenfalls auf Pergament gemalte Bildnis Martin Luthers (IV.M1) erstmals untersucht werden (vgl. Katalogeintrag zu IV.M1). Beide Gemälde wurden in jüngerer Zeit auf neue hölzerne Träger aufgezogen. Das Nürnberger Bildnis I.6M2 wirkt unter anderem aufgrund seines sehr guten Erhaltungszustandes, als sei es bereits als Tafelbild gefertigt worden. Einige Ausfluglöcher von Holzschädlingen verweisen zudem auf einen älteren Anobienbefall der entfernten Buchenholztafel (vgl. Anm. 1). Das Schadensbild des in Privatbesitz befindlichen Exemplars I.6M1 lässt dagegen vermuten, dass das Pergament über einen längeren Zeitraum nicht auf einem starren Bildträger fixiert war (vgl. dazu den Katalogeintrag sowie die technologischen Untersuchungsberichte im Cranach Digital Archive).
[11] Vgl. Heydenreich 2007b, S. 255–259; als Beispiele seien genannt das Bildnis des Gerhart Volk, Museum der Bildenden Künste Leipzig; Bildnis eines Bürgermeisters von Weißenfels, Staatliche Museen zu Berlin; Kopf der Maria (?), Bayerische Staatsgemäldesammlungen; Christus und Maria, Stiftung Schloss Friedenstein, Gotha sowie IV.M1.
[12] Vgl. Heydenreich 2007b, S. 302, und die Einleitung zur Bildnisgruppe III.
[13] Die beiden Kupferstiche Luthers als Augustinermönch (I.1D1 und I.2D1) entsprechen in ihrer absoluten Darstellungsgröße den kleinformatigen Tafelgemälden aus Bildnisgruppe III. Auch hier zeigt sich eine Größenübereinstimmung über die Gattungen hinweg.
[14] Vgl. dazu etwa schon Erichsen 1994, S. 184.
[15] Hofbauer 2021, S. 252–253, verweist auf ein vergleichbares Handmotiv bei dem auf um 1515 datierten Bildnis Friedrichs III. von Sachsen aus dem Besitz der Karl und Magdalene Haberstock-Stiftung, Augsburg [DE_KMHSA_12575]. Dieses Beispiel unterstreicht die gängige Werkstattpraxis der Motivübernahme.
[16] Schon Hess / Mack 2010, S. 285, stellten zwei „Redaktionsstufen“ der Unterzeichnung mit einer ersten zaghaften, kopierenden Anlage und einer zweiten, freieren Überarbeitung fest.
[17] Vgl. Sandner u. a. 2015, S. 128–141; die teilweise individuelle Stilistik und Formauffassung (kugelförmig angelegte Augen; kugelförmiger, perspektivisch nicht stimmiger Hinterkopf; Formfindung des Ohres) unterscheidet sich von den Kompositionsanlagen Lucas Cranachs d. Ä., erinnert aber in einigen Details an Unterzeichnungen von Werken, die dem sog. „Meister der Gregorsmesse“ zugeschrieben werden. Vgl. hierzu Emmendörfer 1998, S. 204 und Sandner 2016, S. 36–97; dazu [DE_BStGS_6271]; [DE_BStGS_5362]; [DE_BStGS_6273], [DE_BStGS_6276]. Auch das gleichzeitige Auftauchen von freien und offensichtlich übertragenen Formen findet sich in der „Messe des hl. Gregor mit Kardinal Albrecht von Brandenburg“ [DE_BStGS_6271] wieder, die um 1520-1525 datiert wird, vgl. dazu Ausst.-Kat. München 2011, S. 141. Beim Gesicht des Kardinals wurde vermutlich mit einer Pause gearbeitet, um die Wiedererkennbarkeit zu gewährleisten.
[18] Der grüne Hintergrund tritt erst viel später vereinzelt wieder auf, vgl. etwa [US_MMA_39-5].
[19] Vgl. dagegen Hofbauer 2021, S. 253; vgl. dazu Anm. 3.
Quellen / Publikationen:
Ausst.-Kat. Cappenberg 1951, Nr. 359; Ausst.-Kat. Nürnberg 1959, Nr. 4; Ausst.-Kat. Nürnberg 1979, S. 55; Ausst.-Kat. Nürnberg 1983, Nr. 363; Löcher 1997, S. 135–136; van Gülpen 2002, S. 160–161; Schuchardt 2004, S. 19-20; Ausst.-Kat. Nürnberg 2004, S. 46–47; Hess / Mack 2010; Zander-Seidel 2010, S. 53, 109–109, 428; Ausst.-Kat. Eisenach 2015, S. 35–37; Ausst.-Kat. Nürnberg 2017, Nr. 100; Hofbauer 2021.